Aktiv & Vital KW 16/22

Der Kindchesbrunnen

In der nüchternen Zeit von heute weiß ja jedes Kind „Bescheid“. In früheren Jahren war das nicht so, da wussten die meisten Kinder nicht so ganz genau, wo die kleinen Buben und Mädchen herkamen. Was bekamen sie auf ihre neugierigen Fragen schon zu hören? Der Storch bringt die Kinder in seinem Schnabel! Eine Kindchesfrau, sprich die Hebamme, holt sie aus dem Kindchesbrunnen und bringt sie in ihrer schwarzen Tasche ins Haus. Das letztere klang am glaubhaftesten, kannte doch ein jeder die Hebamme und sah sie durchs Dorf eilen. Und jedes Mal hörte man dann gleich darauf, dass wieder ein Kind auf die Welt gekommen war.

Den geheimnisvollen Kindchesbrunnen gab es ja auch, ein jedes Ramser Kind hatte ihn schon gesehen und im Rauschen seines Wassers die leisen Kinderstimmen gehört.

Der Kindchesbrunnen war leicht zu finden. Wenn man den Weg am Fuße des Rosenbergs entlang zum Schwarzwald hin ging, kam man bald an eine mächtige Buche. Von da gelangte man auf eine Wiese am Waldrand. Inmitten dieser Wiese befand sich eine Quelle, die mit roh behauenen Sandsteinen eingefasst war. Aus der Tiefe des Brunnens drangen Geräusche – das Plätschern des Wassers, Kinderstimmen, die man unterstützt von den Erzählungen der Großmutter ganz genau zu hören glaubte. Am besten, wenn man ein Ohr auf die Steine des Brunnenrandes legte.

Leider ist, wie so vieles, auch der Kindchesbrunnen verschwunden und damit ein weiteres Stück Kindheitserinnerungen, ein Stück trauter Heimat. Ob heute noch jemand daran glauben würde?

 

Die Brotäcker

Oft gab es schon Notjahre, in denen es nirgends viel und oftmals gar nichts zu beißen gab. Viele kennen solche Zeiten aus eigener Erfahrung. Auch damals gab es schon Menschen, die die Not der Mitbürger auszunützen verstanden. Für einen einzigen Laib Brot konnte man einen Acker oder eine Wiese haben. Das wusste auch ein Bauer und Bäcker hier im Dorf.

Als die schlechte Zeit vorüber war, wusste er schon bald nicht mehr, wo seine ergaunerten Grundstücke alle lagen. Ein Laib Brot – ein Acker!

Doch auch an ihn trat der Sensenmann heran. Er starb nicht leicht, der Geizhals. Keine einzige Ackerkrume konnte er mit ins Grab nehmen. Er hätte sie auch dort nicht brauchen können, es hielt ihn nicht lange in seinem Sarg, denn er muss als Geist umgehen. So sieht man ihn über die zusammengerafften Felder ziehen, mit einem Brotlaib unter dem Arm. Er würde gerne ein Stück davon abbeißen, wenn er nur die Hand zum Munde heben könnte. Durst quält ihn, aber wenn er sich über eine Quelle bückt, spendet sie kein Wasser mehr. So muss er büßen, bis seine ganze Schuld gesühnt ist und das wird wohl noch lange dauern.

Quelle: Unsere Heimat von Georg Spieß